Dienstag, 5. April 2011

„We are always Palestinians“

Interview mit der deutsch-israelischen Menschrechtsanwältin Felicia Langer.


Die arabische Welt wird von Revolutionen erschüttert, die durchaus mit denen von 1989 ff. in Osteuropa verglichen werden können. Welche Auswirkungen werden sie auf den Nahostkonflikt und insbesondere auf die Haltung Israels haben?

Die Revolutionen in der arabischen Welt sind ein epochales Ereignis, das nicht nur den Nahen Osten, sondern sogar die ganze Welt beeinflussen wird. Die Bilder vom Tahrir-Platz (Platz der Befreiung) in Kairo, auf dem Millionen von Menschen – Junge und Alte, Männer und Frauen, Imame und koptische Priester – beharrlich 24 Stunden und 18 Tage lang demonstrierten, gingen um die ganze Welt. Kinder kletterten auf Panzer, Muslime und Christen und andere standen in Bruderschaft zusammen und beteten nebeneinander; alle verabscheuten die Mubarak-Diktatur. Sie wollen für die Freiheit leben, aber sie sind auch bereit, für sie zu sterben. Die Bilder haben sich mir tief in mein Gedächtnis eingegraben, und ich bin glücklich, dass ich es noch erleben durfte.

Mein palästinensischer Adoptivsohn Sami, der in den USA lebt, schrieb mir am 2. Februar 2011 die folgenden Zeilen unter dem Titel: „Born again!“ „Our mother, the feelings amongst Arab-Americans whether from Palestine, Syria, Tunisia, Lebanon, Iraq is one of „Born Again!“ It is just amazing to see these people a few weeks ago and today! People feel like they were in a deep sleep. Your dedicated and hard work and standing steadfast to principles of justice and equality and freedom through all these decades were not in vain! Let us hope that Egypt and Tunisia lead the way for the people of the region to live in democracy and freedom. I wrote to an Egyptian friend in Cairo telling her that “I feel like an Egyptian!” Her response was: “Yesterday we were all Tunisians; today we are all Egyptians but WE ARE ALWAYS PALESTINIANS.”

Diese authentische Aussage spricht Bände und ist wie eine Warnung: Die befreiten Völker werden nicht mehr lange die Entrechtung und die grausame Unterdrückung durch das kolonialistische israelische Besatzungsregime unter der Ägide des Westens dulden. Israel muss die legitimen Rechte der Palästinenser berücksichtigen, Frieden mit Gerechtigkeit, völkerrechtsentsprechend mit ihnen schließen, um Teil des Nahen Ostens werden zu können. Die israelischen Friedenskräfte sehen das auch so. Die Zeit drängt.

Die Veröffentlichung der so genannten „Palestine Papers“ hat aller Welt vor Augen geführt, dass Israel die Macht ist, die sich kompromisslos verhält. Ist dieser Eindruck korrekt? Ist die israelische politische Klasse nicht friedensfähig oder sogar friedensunwillig? Will die israelisch-zionistische Politelite das ganze Palästina für sich, ohne die eigentlichen Besitzer des Landes?

Leider muss ich die Fragen mit einem „Ja“ beantworten. Alle israelischen Regierungen bis heute, und die jetzige israelische Regierung im Besonderen, waren und sind friedensresistent. Sie haben alle Friedensbemühungen, Versuche, Initiativen der arabischen und der palästinensischen Seiten und anderen abgelehnt. Die israelische Antwort sind die 500.000 völkerrechtswidrigen israelischen Siedler in den besetzten Gebieten und der Bau einer Monster-Mauer, die ebenfalls wider das Völkerrecht zu 85 Prozent auf besetztem palästinensischem Land gebaut worden ist.

Eine weitere israelische Antwort sind auch die zirka 10.000 politischen Gefangenen, gezielte Tötungen, was juristisch als Mord zu klassifizieren ist, Folterungen und der Raub des Landes und des Wassers. Die „Krönung“ war der barbarische Krieg gegen Gaza, der einen genozidalen Charakter hatte. Die Liste könnte ad infinitum fortgesetzt werden. Was den Zionismus betrifft, bedeutet sein natürlicher Code Expansion: nicht Staat Israel in Palästina, sondern Palästina als Staat Israel. Möglich sind da nur ein Paar Bantustans für die Palästinenser.

Ihr 40-jähriges Engagement für das Palästinensische Volk in einer feindseligen Umgebung in Israel kann nur als Bewunderns- und nachahmenswert bezeichnet werden. Seit Ihrer „Aliyah“ nach Deutschland vor mehr als 20 Jahren hat sich in Bezug auf Israels fortgesetzte Kolonisierung fremden Landes wenig verändert. Sie haben eine enorme Aufklärungsarbeit in Deutschland in Bezug auf die Völkerrechts- und menschrechtsverletzende Politik Israels einiges bewirkt. War Ihre Arbeit wirklich dauerhaft durchschlagend?

Diese 20-jährige Aufklärungsarbeit in Deutschland hat, und dies sage ich in aller Bescheidenheit, Spuren hinterlassen, wenn nicht bei den Politikern, dann bei der Bevölkerung. Aber auch nicht alle Politiker sind gleichgültig geblieben, wie die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse 2009 gezeigt hat. Ich habe diese Auszeichnung für mein „humanitäres Lebenswerk“ für den Einsatz für die Rechte der Palästinenser erhalten; es ist ein Beweis, dass sich allmählich etwas ändert.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Palästina-Engagement die junge Generation in Deutschland kalt lässt. Teilen Sie diese Einschätzung, wenn Sie sich die große Zuhörerschar bei Ihren Veranstaltungen anschauen?

Die jungen Zuhörer, obwohl sie nicht aktiv sind, zeigen, dass sie einen Sinn für Gerechtigkeit haben und sich über Israels brutale und rücksichtslose Politik empören. Solche Eindrücke habe ich bei meinen Veranstaltungen gewonnen. Sie sind ein ermutigendes Zeichen.

Ihr letztes Buch trägt den Titel „Um Hoffnung kämpfen“. Gibt es im israelisch-palästinensischen Konflikt überhaupt noch Hoffnung jenseits der israelischen Unterdrückungspolitik, die vorbehaltlos von den USA unterstützt wird, wie das letzte Veto im UN-Sicherheitsrat gezeigt hat, durch das die USA gegen ihre eigenen Forderungen nach einem Siedlungsstopp gestimmt haben?

Ich verstehe Hoffnung als etwas Reales; historisch und sachlich wurde sie bestätigt durch den Sieg gegen den Kolonialismus und Apartheid. Seit Jahren ist Hoffnung für mich wie ein „Kraftelixir“ im Kampf für Gerechtigkeit. Ich habe versucht, auch anderen Menschen Hoffnung zu geben, um sie in ihrem Einsatz zu stärken, und ich tue es weiter. Das „Prinzip Hoffnung“ bedeutet für mich die Antithese von Verzweiflung.

Die Unterdrückung der Palästinenser, die Entrechtungspolitik Israels ist verheerend. Aber es wird so nicht bleiben, insbesondere nach dem Umbruch in der arabischen Welt. Es wird auch einen Druck auf Israel geben. Auch das amerikanische Volk wird begreifen, dass die Politik Israels eine Last für die USA in der neuen Konstellation in Nahost ist, in der die Völker und nicht die von den USA bezahlten Despoten das Sagen haben werden.

Das Veto der USA in der Siedlerfrage im UN-Sicherheitsrat gegen die eigene Politik und gegen das Völkerrecht war eine Blamage für die USA, die die Weltöffentlichkeit scharf kritisiert hat. Die USA haben eine Isolation ähnlich wie Israel erlebt. Dies mag eine Lehre für die Zukunft sein, und sie sollte der Welt die Augen öffnen über die israelisch-amerikanische Politik. Niemand ist für ewig imstande, das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser zu blockieren.

Ende November fand in Stuttgart eine Konferenz unter dem Motto „Getrennte Vergangenheit – Gemeinsame Zukunft“ statt, nach der eine Erklärung verabschiedet worden ist, die sich für eine Einstaatenlösung“ als Königsweg für die Lösung des Nahostkonfliktes ausgesprochen hat. Sie fungierten als Schiermfrau dieser Konferenz. Glauben Sie, dass die Lösung dieses Konfliktes in einer Einstaatenlösung“ liegt? Gibt es in Israel überhaupt irgendwelche politisch-relevanten Kräfte, die diesen Weg mitgehen wollen?

Soweit mir bekannt ist, gibt es in Israel keine politisch-relevanten Kräfte, die für eine Einstaatenlösung plädieren. Laut Umfragen sind 70 Prozent der Israelis und 63 Prozent der Palästinenser für eine Zweisstaatenlösung. Im Folgenden möchte ich mich auf das Interview beziehen, das ich Ihnen nach der Veröffentlichung der „Stuttgarter Erklärung“ am 21. Dezember 2010 gegeben habe.

Ich war merkwürdig berührt, dass ich als „Schirmfrau“ dieser Veranstaltung über diese Erklärung vorab nicht informiert worden bin. Man behauptete, dass die Zweistaatenlösung nicht mehr in Frage komme, weil dies für die Palästinenser nur in einem Bantustan enden könne, was für sie unannehmbar sei. Ich habe in meiner Rede die Zuhörerschaft daran erinnert, dass die französische Kolonialmacht nach ihrer Niederlage in Algerien eine Million französischer Siedler aus dem Land transferiert habe. In einem einzigen Satz habe ich zur Einstaatenlösung gesagt, dass sie zwar wunderschöne Eigenschaften habe, aber ich fürchte, dass sie unrealistisch sei, aber trotzdem bleibt die Hoffnung. In dem damaligen Interview habe ich gesagt und dazu stehe ich auch heute noch: „Das Schlussdokument - die so genannte Stuttgarter Erklärung - spaltet, anstatt sich auf die wichtigste Aufgabe, nämlich den Kampf gegen Besatzung und die gegenwärtige barbarische Politik Israels gegenüber den Palästinensern zu konzentrieren. Das palästinensische Volk muss alleine über die Lösung entscheiden, und man soll seinen Kampf unterstützen. Eine beleidigende Terminologie über das ´dogmatische Festhalten der so genannten internationalen Gemeinschaft an der Zweistaatenlösung` etc. ist fehl am Platz. Diese Erklärung zersplittert unsere Reihen, deren Einheit wir so dringend brauchen`; sie ist ein Eigentor, deshalb bin ich dagegen.“

In Ihrem Buch „Um Hoffnung kämpfen“ machen Sie sich auch Gedanken darüber, wer Ihre Rolle in Deutschland in Ihrem Sinne ausfüllen könnte. Sie „bestimmten“ Frau Evelyn Hecht-Galinski, die Tochter eines ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, quasi zu Ihrer „Nachfolgerin“.

Leider, dies war ein Irrtum. Errare humanum est – Irren ist menschlich.

Frau Langer, danke für das Interview.

Die Fragen stellte Ludwig Watzal, Journalist und Redakteur in Bonn.

Foto: Der Semit

Zuerst erschienen in: Der Semit.