Donnerstag, 5. April 2012

Günter Grass, Israel und der „Antisemitismus“

Der Großschriftsteller Günter Grass ein „Antisemit“, ja sogar ein „gebildeter Antisemit“? Kluge Menschen wie Tom Segev, Avi Primor u. a. weisen diesen ungeheuerlichen Vorwurf zurück. Sie betonen sogar Grass` Verbundenheit mit dem Staat Israel.

Günter Grass hat das getan, wozu Schriftsteller auch da sind: Er hat ein gesellschaftliches Unbehagen verbalisiert, das nicht nur in der deutschen Öffentlichkeit grassiert und das die veröffentlichte Meinung ignoriert, nämlich, dass die Menschen in den Angriffsdrohungen der USA und Israels gegen Iran eine Bedrohung des Weltfriedens sehen. Die international veröffentlichte Meinung hat aber das iranische Regime bereits so dämonisiert, dass die offenen Aggressionen der beiden Atommächte fast widerspruchslos hingenommen werden. Grass hat diese Fehlwahrnehmung zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung durch sein etwas schwammiges Prosagedicht versucht, zu korrigieren, was deshalb wohl nach hinten losgegangen ist.

Was ist an Grass` Vorwurf dran, „die Atommacht Israel gefährde den ohnehin brüchigen Weltfrieden?“ Auch der israelische Schriftsteller David Grossmann hat kürzlich in der „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ ähnliches insinuiert, aber im Gegensatz zu Grass, hat er eine politische Analyse geliefert und auf die Hermetik von Netanyahus Vorstellungswelt hingewiesen. Wie verhält es sich eigentlich mit den Fakten, um die es doch in der öffentlichen Debatte gehen müsste?

Nach internationalen Schätzungen verfügt Israel über zirka 250 bis 300 Atomraketen sowie über eine unbekannte Anzahl biologischer und chemischer Waffen. All diese Einrichtungen werden im Geheimen betrieben und unterliegen keiner Inspektion durch die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) in Wien. Israel ist die dritt- oder viertstärkste Militärmacht der Welt, die eine Hegemonie über die gesamte arabische Welt ausübt. Israel besetzt seit 1967 die Westbank, die syrischen Golan-Höhen und Ost-Jerusalem, und es hat den ehemals besetzten Gaza-Streifen in das größte „Freiluftgefängnis“ der Welt verwandelt, zu dem es die alleinige Schlüsselgewalt besitzt, folglich gilt auch der Strip nach Völkerrecht immer noch als besetztes Gebiet. Seit 45 Jahren kolonisiert Israel palästinensisches Land wider Völkerrecht und verletzt die Menschenrechte des palästinensischen Volkes wider alle Normen westlicher Wertvorstellungen. Im Juli 2004 hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag die von Israel zu großen Teilen auf besetztem Land errichtete Mauer als völkerrechtswidrig verurteilt. Teile der in die besetzten Gebiete transferierten Siedler terrorisieren die arabischen Bewohner. Hassparolen wie „Tod den Arabern“, „Arabs to he Gas“ oder „Gas the Arabs“ zieren als Slogans arabische Häuser; sie sind mit dem Kürzel „JDL“=“Jewish Defense League“ unterzeichnet. Selbst die palästinensischen Israelis sehen sich seitens des Staates Israel einer einzigartigen „legalen“ Diskriminierung ausgesetzt, der sie aufgrund ihres nicht-jüdischen Status als Bürger zweiter Klasse behandelt. Zu all diesen demokratischen Werten fundamental widersprechenden politischen Aktionen fällt den Staats- und Regierungschefs der westlichen Staatenwelt nichts Sinnvolles ein.

Darüber hinaus droht Israel Iran mit einem Überfall, obgleich das Land niemanden bedroht, seit Jahrhunderten kein anderes Land angegriffen hat und selbst einen mörderischen Überfall seitens des Irak, der von der gesamten westlichen Staatenwelt unterstützt und mit US-amerikanischem Giftgas ausgerüstet worden ist, überstanden hat. Die Vereinigten Staaten gehen mit den israelischen völkerrechtswidrigen und menschrechtsverletzenden Praktiken durch dick und dünn und haben über 30 UN-Sicherheitsresolutionen mit ihrem Veto belegt, das heißt, sie haben diese Verstöße, respektive "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" (Goldstone-Bericht) wie das Massaker im Gaza-Streifen 2008/09 oder den Überfall auf die „Mavi Marmara“ in internationalen Gewässern, gedeckt.

Israels Schutzmacht, die USA, verstößt ihrerseits gegen alle Normen des Völkerrechts, wie durch den Überfall auf den Irak 2003 oder die Besetzung Afghanistans seit 2001 geschehen. Die USA haben einseitig auf der Seite so genannter Rebellen im libyschen Bürgerkrieg interveniert und bedrohen zusammen mit anderen arabischen Regimen das syrische Asad-Regime wider das Souveränitätsgebot und das Nichteinmischungsverbot des Völkerrechts.

Wie sieht die konkrete Bedrohung Israels durch das zivile iranische Nuklearprogramm aus? Eine solche halten selbst israelische Geheimdienstchefs, Militärexperten und Militärhistoriker nicht für gegeben. Auch die 17 (!) US-Geheimdienste sehen im iranischen Nuklearprogramm auf Jahre hinaus keine Bedrohung Israels, geschweige denn des Westens, weil es seit 2003 eingestellt worden ist. Israel fühlt sich also von einer nichtexistenten iranischen „Atombombe“ bedroht! Selbst die politisch einseitigen Berichte der IAEO kommen zu dem Schluss, dass Iran aktuell an keinem Atomprogramm arbeite.

Im Gegensatz zu Israel hat Iran den Atomwaffensperrvertrag (NPT-Vertrag) sowie das Zusatzprotokoll unterzeichnet. In allen seine nuklearen Forschungsanlagen gehen die IAEO-Inspekteure täglich ein und aus. Sie haben bis heute nichts gefunden, was darauf schließen lässt, dass Iran an einer Atombombe baut. Gleiche Befunde hatten die IAEO-Inspekteure auch für den Irak festgestellt, trotzdem hat der US-Cowboy-Präsident das Land überfallen und es nach zehn Jahren total verwüstet wieder „verlassen“. Wenn es nach der Meinung der neokonservativen Kriegstreiber, der Israellobbyisten, der US-amerikanischen und der israelischen Regierung sowie der Meinung internationalen Leitmedien geht, wird es einen weiteren Überfall auf ein Land der internationalen Staatengemeinschaft geben, und zwar aufgrund eines angenommenen Verdachts, dem jedoch alle Fakten entgegenstehen.

Wie steht es nun um die wirkliche „existentielle Bedrohung“ Israels? Nach Faktenlage gibt es eine solche nicht. Das politische Gerede von einem bevorstehenden „Holocaust“ diene auch dazu, die militärische Hegemonie Israels über den gesamten Nahen und Mittleren Osten weiter aufrechtzuerhalten, und dazu sei es nötig, das zivile iranische Atomprogramm zu zerstört. Die kruden Äußerungen des iranischen Präsidenten zum Holocaust sind so bizarre und stehen den Ergebnissen der seriösen Forschung so entgegen, dass sie keiner ernsthaften Würdigung Wert sind. Auch seine anderen rhetorischen Ausfälle stellen keine militärische "existentielle Bedrohung" Israels dar. Darüber hinaus ist seine zweite Amtszeit in einem Jahr beendet.

Was denkt der führende Militärhistoriker Martin van Creveld, Professor für Militärgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem, über eine angebliche „existentielle Bedrohung“ Israels? "Wir besitzen mehrere hundert atomare Sprengköpfe und Raketen, die wir auf alle Ziele in alle Richtungen abfeuern können, sogar auf Rom", sagt van Creveld in der Neuauflage von David Hirsts klassischem Buch bezüglich des arabisch-israelischen Konflikts: "The Gun and the Olive Branch" (Gewehr und Olivenzweig). "Die meisten europäischen Hauptstädte sind Ziele unserer Luftwaffe. Ich möchte General Mosche Dayan zitieren: 'Israel muss sein wie ein tollwütiger Hund, zu gefährlich, um sich mit ihm anzulegen.' (...) Unsere Armee ist nicht die 30-stärkste der Welt, sondern die zweit oder drittstärkste. Wir haben die Fähigkeit, die Welt mit uns in den Untergang zu reißen. Und bevor Israel untergeht, wird die Welt untergehen."

Da Iran von Ländern umzingelt ist, die von der US-Hypermacht besetzt sind, wäre es nach Meinung van Crevelds “crazy not to build nuclear weapons considering the security threats they face“. Und 2005 fügte er hinzu, dass “the world must now learn to live with a nuclear Iran the way we learned to live with a nuclear Soviet Union and a nuclear China. (…) We Israelis have what it takes to deter an Iranian attack. We are in no danger at all of having an Iranian nuclear weapon dropped on us (…) Thanks to the Iranian threat; we are getting weapons from the U.S. and Germany.” Grass hat also nicht ohne Grund die Lieferung eines sechsten U-Boots an Israel kritisiert, das mit Atomraketen ausgerüstet werden kann. Verstößt Deutschland nicht durch diese U-Boot-Lieferung gegen seine eigenen Waffenexport-Richtlinien, die besagen, keine Waffen in Krisen- und Spannungsgebiete zu liefern?

Vielleicht sollte sich die deutsche Medienöffentlichkeit mit Fakten befassen und nicht die psychische Verfasstheit eines 85-jährigen Schriftstellers analysieren und interpretieren.