Mittwoch, 1. Januar 2014

Warum ich aufhöre, Jude zu sein

In Deutschland, von den USA gar nicht zu sprechen, ist keine kritische Auseinandersetzung mit den unzähligen israelischen Besatzungsverbrechen, den Menschenrechtsverletzungen gegenüber den Palästinensern und der Missachtung des Völkerrechts mehr möglich. Schon bei der leisesten Kritik an Israel wird der Vorwurf des „Antisemitismus“ erhoben, was zum Schluss der Debatte führt. Diese Einschüchterungskampagne hat zu einer Art Selbstzensur der Medien geführt, obgleich in Wirklichkeit „der öffentlich-politische Antisemitismus in der liberalen und demokratischen Welt insgesamt deutlich abgenommen“ habe, wie Shlomo Sand in seinem außergewöhnlichen Essay betont. 

Dieser Essay bildet den möglichen Höhepunkt einer Trilogie, die die totale Dekonstruktion des zionistischen Mythos zum Ziel hat, der sich nicht nur um das „jüdische Volk“, sondern auch um „Eretz Israel“ (Land Israel) rankt und von den zionistischen Mythenbildnern geschaffen worden ist. Die Zerstörung dieser Legenden hat Sand bereits in seinen beiden Büchern „Die Erfindung des Jüdischen Volkes“ und „Die Erfindung des Landes Israel“ geleistet. In seinem aktuellen Essay sagt sich Shlomo Sand vom Judentum los, damit gehört er nach eigener Auffassung zu einer vom „Aussterben bedrohten Art“. Ist es heutzutage nicht gerade „chic“ geworden, entweder aus Gründen der Kariere zum Judentum zu konvertieren oder sich aus persönlicher Geltungssucht eine „jüdische“ Identität zuzulegen, wie dies einige Hochstapler getan haben? Justament um die Frage der Identität dreht sich Sands Essay. 

Israel befindet sich in einer permanenten Identitätskrise, weil das politische Establishment seinen Bürgern keinen Ausweg aus dem Dilemma aufzeigt, in dem sich das Land befindet. Ist Israel ein „jüdischer“ und darüber hinaus auch noch ein „demokratischer“ Staat, mit allen Problemen, die solch eine Selbstzuschreibung für alle Nicht-Juden und auch für alle säkularen Israelis mit sich bringt, ober soll sich das Land, wie alle anderen Staaten dieser Welt, als ein Staat aller seiner Bürger definieren? Wie ein Gericht kürzlich festgestellt hat, scheint „Israeli“ in einem Pass nichts verloren zu haben. Der Autor plädiert natürlich für ein Israel für alle seine Bürger, weil Israel nicht nur 20 Prozent seiner palästinensischen Bürger, sondern auch weitere 25 Prozent seiner jüdisch-säkularen Bürger durch seine ethnozentrische Definition ausgrenzt. Die Absurdität, die sich aus der Selbstzuschreibung als „jüdische Nation“, und zwar als „Eigentum“ aller Juden dieser Welt ergibt, macht Shlomo Sand bereits in der Einleitung deutlich.

„Der Staat Israel definiert mich nicht als Juden, weil ich eine jüdische Sprache spreche, (…). Ich gelte nach Ansicht dieses Staates als Jude, weil er meinen Stammbaum durchstöbert und sich vergewissert hat, dass meine Mutter jüdisch ist, meine Großmutter es auch war, was wiederum meiner Urgroßmutter zu verdanken ist, und so weiter bis ans Ende der Ahnenreihe.“ Wäre nur Sands Vater Jude gewesen, gelte er als „Goj“ (Nicht-Jude), seine Nationalität im israelischen Pass würde „österreichisch“ lauten, da er zufällig in einem Flüchtlingslager in Linz geboren worden ist. Schon an diesem Beispiel scheint das enorme Identitätsproblem des Landes auf. Und am eigenen Beispiel exemplifiziert der Autor verschiedene Identitäten, die er im Laufe seines Lebens angenommen hat. 

Besonders kritisch geht der Autor mit dem säkularen Judentum ins Gericht. Ihre Vertreter seinen sich über ihre national-säkulare Identität nicht im Klaren, sodass sie sich auf eine ethnozentrisch-jüdische festgelegt hätten. Israel sei eine zionistische Ethnokratie. „Die Anmaßung des Zionismus, das alte Hebräisch und die Kultur des ‚biblischen Volkes‘ zu neuem Leben erweckt zu haben, ist eine moderne nationalistische Legende, in deren Glauben Generationen von Israelis und Zionisten weltweit erzogen wurden.“ 

Rückt man Zionismus auch nur in die Nähe von Rassismus, schreien die Gralshüter dieser Ideologie Zeter und Mordio. Was meint der Autor dazu: „Ich bin mir bewusst, dass ich in einer der rassistischsten Gesellschaften der westlichen Welt lebe. Rassismus gibt es natürlich fast überall, doch in Israel ist er dem Geist der Gesetze eingeprägt, wird über das Bildungssystem weitergegeben und in den Medien verbreitet. Das Schlimmste aber ist, dass sich Rassisten in diesem Land ihres Rassismus überhaupt nicht bewusst sind und keinerlei Bedürfnis haben, sich dafür zu entschuldigen. Da dieses Bedürfnis fehlt, wird Israel heutzutage von vielen Bewegungen der radikalen Rechten weltweit bewundert – von Bewegungen, die in der Vergangenheit als antisemitisch galten.“ Tatsächlich pilgern immer wieder Rechtspopulisten und rechte Extremisten scharenweise nach Israel, werden dort zum Teil von rechtsnationalistischen Politikern empfangen und erhalten als Wegzehrung für die Heimreise den Koscher-Stempel. 

Shlomo Sands Gewissen rebelliert geradezu gegen das schreiende Unrecht, das im Namen des Judentums tagtäglich gegenüber den Palästinensern begangen wird. Wie könne man, fragt der Autor, sich unter diesen gegebenen Umständen weiterhin als Jude bezeichnen oder den ausschließlichen Besitzanspruch auf das Land eines anderen Volkes erheben? Es scheint, als ob dies nur durch eine zunehmend „judozentrische“ Politik möglich sei, die konsequent eine „israelische Identität“ leugne, die die Grundlage für ein „republikanisches und demokratisches Selbstbewusstsein“ abgeben könnte. 

Der Autor kritisiert auch Israels Umgang mit dem Holocaust. Es sei eine „Holocaust-Religion“ des „ausschließlichen Opfers“ entstanden. Dies erinnert stark an Norman Finkelstein These von der „Instrumentalisierung“ des Holocaust. Im Abschnitt „An alle Mordopfer erinnern“ kritisiert Sand alle diejenigen, die den industriellen Massenmord der Nazis ausschließlich als „jüdische Tragödie“ darstellten. Exemplarisch werden der Film „Shoah“ von Claude Lanzmann oder die Haltung Elie Wiesels genannt, die einfach die anderen sechs Millionen nicht-jüdischen Opfer der Nazi-Barbarei ignorieren. „Auch im so beharrlichen wie dröhnenden Schweigen des israelischen Auswanderers Elie Wiesel, der für die Verewigung der Exklusivität des jüdischen Todes den Friedensnobelpreis erhielt, findet die Erinnerung an den Tod der anderen nicht statt.“ „Der industrielle Mord wurde zur ausschließlich jüdischen Tragödie.“ Neben den sechs Millionen Juden wurden weitere fünf bis sechs Millionen Nicht-Juden „industriell“ umgebracht, deren minderer Opferstatus wird von Sand kritisiert. 

Nachdem der Autor so viel Kritisches über Israel zu Papier gebracht hat, hätte der Leser eigentlich erwartet, dass er dem Land den Rücken kehrt. Mit entwaffnender Offenheit gesteht er, dass er zwar mit einem „tiefen Widerspruch“ in Israel lebe, aber niemand könne „nachvollziehen, was Israelsein für mich bedeutet“. Obgleich Sands „tiefe Verbundenheit“ mit Israel nur seinen „Pessimismus“ bestärkt und er den „Launen wahnwitziger Stammespriester“ ausgeliefert bleibe, verbiete es ihm der „entsetzte Engel der Geschichte, aufzugeben und zu verzweifeln“. Eine bessere Liebeserklärung an sein Land kann man sich gar nicht vorstellen. 

Dieser Essay vermittelt den Lesern ein Israelbild, das mit der üblichen Israel-Prosa nichts zu tun hat. Um für Aufklärung zu sorgen, sollten die politischen Bildungsträger ihrer Klientel diesen Essay flächendeckend zur Verfügung stellen.